Lützerath – 35 Tausend gegen 280 Millionen

Lützerath ist ein kleines Dorf im rheinischen Braunkohlerevier. Für seine recht bescheidene Größe war es in den letzten Wochen aber dennoch sehr oft in den Medien. Mit gutem Grund: Das Dorf soll für die darunter liegende Braunkohle abgebaggert werden. Werden die 280 Millionen Tonnen Braunkohle unter Lützerath aber abgebaggert und verfeuert, so kann das 1,5°C-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens für Deutschland nicht mehr eingehalten werden. Dessen Einhaltung ist jedoch elementar wichtig. Deshalb besetzten Aktivistinnen und Aktivisten teils seit Jahren das Dorf und seine Gebäude und lebten dafür teilweise sogar auf Baumhäusern im Wald in Lützerath. Das Gelände gehört aber mittlerweile dem Energiekonzern RWE und der ließ das besetzte Dorf vor kurzem von der Polizei räumen, um mit dem Abbaggern beginnen zu können.

Am vierten Tag der Räumung veranstaltete das Aktionsbündnis “Lützerath Lebt” eine Großdemonstration, dem Aufruf folgten 35.000 Leute. Wir waren vor Ort.

Eine Fotoreportage von Kilian Wolter

 

Als ich vor neun Monaten schon einmal in Lützerath war, stand ich in Lützerath und blickte auf zwei riesige Kohlebagger, die sich wie gefräßige Monster in die Landschaft fraßen. Wäre es keine Kohlegrube, könnte man meinen, man würde auf dem Gipfel eines Berges im Mittelgebirge stehen und über ein schier endloses Tal gucken, so tief und weitläufig erstreckte sich der Tagebau. Garzweiler II, so der Name der Kohlegrube, ist das größte Loch Europas und nicht umsonst kommen einige Menschen mit Tränen in den Augen wieder, wenn sie an der Kante standen. Denn der Anblick ist auf eine erschreckende Weise überwältigend, wenn man bedenkt, was dieses Loch für das Weltklima bedeutet.

Jetzt stehe ich neben der Tagebaukante in teils knöcheltiefem Matsch und man darf nicht mehr nach Lützerath hinein. Den Platz, an dem ich damals stand, gibt es schon nicht mehr. Vor mir steht eine Polizeikette in Vollmontur auf einem Wall, die versucht, eine wütende Menschenmenge davon abzuhalten, nach Lützerath hineinzugelangen, das sonst nur noch von zwei Bauzäunen umrundet wird. Dabei hatte die Demo eigentlich sehr friedlich gestartet und blieb das auch größtenteils. Das, was am Abend in den Medien stehen wird, sind aber die zahlreichen Gewaltszenen, die ich gerade probiere, mit dem Restakku, der meinem Handy noch verbleibt – der Akku meiner Kamera ist schon der Kälte erlegen – so gut es geht, einzufangen.

Die erschlagende Weite des Kohletagebaus von der Kante aus gesehen (Foto: Kilian Wolter)

Demozug durch eine Geisterstadt

Gestartet war die Demo im benachbarten Keyenberg und noch als wir loslaufen, kommen vier Kilometer entfernt Reisebusse mit Demonstrierenden an. Trotz der Kälte und des Sturms ziehen 35.000 Menschen, Privatpersonen, aber auch Verbände wie der BUND, Greenpeace oder der NABU, friedlich durch ein tristes Dorf. 

Eine enge Straße, links und rechts stehen rote Backsteinhäuser. Das mag nach Vorstadtidylle bei schlechtem Wetter klingen. Die war es bestimmt auch mal gewesen. Heute aber sind die Jalousien überall hinuntergelassen, die Vorgärten verdorrt. Denn die Häuser sind verlassen.

Der Demozug führt durch das verlassene Keyenberg (Foto: Kilian Wolter)

RWE hat die Grundstücke aufgekauft. Die ehemaligen Einwohner hatten die Wahl, nach einem Gutachten entweder sich den Grundstückspreis auszahlen zu lassen, oder einfach in eines der Neubaugebiete in der Region zu ziehen. Diese Neubaugebiete machen ihrem Namen alle Ehre, sollen einfach das alte Keyenberg zum Beispiel ersetzen. Es heißt dann Neu-Keyenberg. Ich erinnere mich daran, wie ich im April in einem dieser Neubaugebiete war und vergleiche das alte Keyenberg, durch dessen Straßen ich gerade laufe, mit Neu-Keyenberg. Sogar die Straßennamen tragen dort die Veränderung in sich: „Am Markt (neu)“ steht an einer betonierten Freifläche an einem Laternenmast. Am ursprünglichen Markt laufe ich gerade dran vorbei. Kein Vergleich. Die Kirche im neuen Dorf erinnert nur durch das kleine Kreuz auf dem Dach daran, dass sie das nachbilden soll, was in Keyenberg mal ein mehrere Jahrhunderte altes, beeindruckendes Gebäude war. So etwas wie eine Bäckerei fehlt komplett und für die zahlreichen Bauernhöfe der Umgebung ist kein Platz. Keyenberg ist eins der restlichen fünf Dörfer der Region, die einst abgebaggert werden sollten, nun aber gerettet wurden.

Die Pumpe entzieht dem umliegenden Bden das Grundwasser (Foto: Kilian Wolter)

Irgendwann laufen wir aus Keyenberg raus. Die Demoroute führt nun auf einer asphaltierten Straße zwischen zwei großen Feldern zur Endkundgebung, 200 Meter von der Tagebaukante entfernt. Der Wind und kalter Regen peitschen uns ins Gesicht, als sich ein weiteres Paradoxon darbietet, links der Straße auf dem Feld stehen in einigem Abstand voneinander zwei Pumpen. Der eine Typ Pumpe ist rund um den Tagebau nicht selten gesehen. Diese Pumpen entziehen den umliegenden Böden das Grundwasser, damit der Tagebau nicht voll Wasser läuft. Nicht sehr zur Freude der Bauern, die ihre Felder dadurch selbst nach Regenfällen wieder extra bewässern müssen. Eine beidseitige Sisyphusarbeit, die enorm viel Energie verbraucht.

Auf einmal strömen tausende Menschen von allen Seiten in Richtung Endkundgebung. Später erfahren wir, der Andrang sei so groß gewesen, dass zu dem Zeitpunkt, wo die Demospitze bei der Bühne angekommen war, immer noch Menschen gerade am Startpunkt der Demo standen. Daher hatte man mehrere Menschen umgeleitet, damit sie auch noch pünktlich ankamen. Das ergibt nun ein beeindruckendes Bild, als sternförmig alles vor einer Bühne zusammenkommt. 

Verglichen mit dem Kohlebagger, der nun in deutlicher Sichtweite ist, wirkt die Bühne sehr klein, aber die Worte, die auf ihr gesprochen werden, überragen den Stahlkoloss um ein Vielfaches.

 

Große Reden von großen Missständen

Peter Emorinken Donatus, ein nigerianischer Aktivist und Journalist, der sich schon seit Jahren gegen den Landraub von fossilen Konzernen wie Shell in seiner Heimat einsetzt und auch in Deutschland für die Anerkennung von Umweltverbrechen und Ökoziden kämpft, schmettert eine knappe Viertelstunde lang beeindruckend über die Ungerechtigkeit der Folgen der Klimakrise. Er klagt außerdem an, dass der globale Süden schon jetzt massiv die Auswirkungen der Klimakrise spüre, während die Schuld dafür bei den Wirtschaftsmächten im globalen Norden zu suchen ist. Lützerath abzubaggern, habe nicht nur Folgen für die Umgebung, die Auswirkungen auf das Klima blieben nicht in Deutschland. Sie betreffen die ganze Welt und Lützerath sei Europas größte CO2-Quelle.

“Ich habe Greta Thunberg im Fernsehen gesehen und ich war sehr begeistert. Was sie gesagt hat: >>How Dare You?<< (…) Auf der anderen Seite, wenn ich, Peter Emorinken Donatus, Elisa (Elisa Bas, Klimaaktivistin bei BiPoC for Future, Moderatorin auf der Endkundgebung, Anm. d. Red.), wenn andere Menschen aus dem globalen Süden aufstehen und zu den Machthabern sagen: How Dare You? Was würde denn dann passieren?” so Donatus.

Eben noch von Donatus zitiert, steht Greta Thunberg, die Erfinderin der Fridays-For-Future-Bewegung, selbst auf der Bühne und macht klar, der Kampf für Klimagerechtigkeit sei noch nicht vorbei und noch sei die Kohle unter Lützerath im Boden. So müsse es auch bleiben.

Ein Nachredner der schwedischen Klimaaktivistin ist auch David Dresen. Seine Familie hatte in einem mittlerweile vom Abbau geretteten Dorf einen gut laufenden und in der Region beliebten Reiterhof. Im April erzählte er, wie er und seine Familie vor jedem Kaffeetrinken im Garten den Kohlestaub vom Tisch wischen mussten, der überall in der Luft schwebt und sich festsetzt. Und während er von komplett schwarzen Wischlappen erzählte, erwähnte er beinahe beiläufig die hohe Rate an Krebserkrankungen in der Region, die auf die Feinstaubbelastung zurückzuführen ist. Heute zeigt er auf der Bühne die Widersprüche in den Studien zu Lützerath auf. 

Widersprüchliche Bedarfsstudien zu Lützerath

Es gibt mehrere Studien, die analysieren, ob die Braunkohle unter Lützerath, auch in Bezug auf die aktuelle Energiekrise, benötigt wird oder nicht. Sprich also, ob Lützerath abgebaggert werden muss, oder nicht.

Die Studien kommen zu verschiedenen Ergebnissen und Befürworter und Gegner halten jeweils an der für ihre Forderung zutreffenden Studie fest. So gibt es zum Beispiel ein Gutachten, das vom Land Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegeben wurde, das besagt, dass aus den bestehenden Tagebauten Garzweiler II und Hambach noch 280 Millionen Tonnen Kohle gewonnen werden könnten. Bis 2030 bräuchte man aber noch 297 Millionen Tonnen Kohle. Glaubt man dem Gutachten, so würden die bestehenden Tagebauten nicht genug Braunkohle hergeben und in der Folge müsste Lützerath abgebaggert werden. Allerdings dementieren Kritiker, dass die Datenbasis für das Gutachten ausschließlich von RWE selbst zur Verfügung gestellt wurde und dass die leitenden Wissenschaftler selbst angeben, unter Zeitdruck arbeiten gemusst zu haben. Zudem wird in dem Gutachten von sehr hohen Bedarfsmengen in der Kohleverstromung und Kohleveredelung ausgegangen –  Zu hohen, findet die Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, kurz DIW. Ihre Studie beruht auf unabhängigen Datenquellen und kommt zu dem Schluss, dass auch in der aktuellen Energiekrise nur 271 Millionen Tonnen Braunkohle benötigt werden würden. Überdies könnten den bestehenden Tagebauten noch 300 Millionen Tonnen Braunkohle entnommen werden, in jedem Fall bräuchte man demnach Lützerath nicht abbaggern. Zu den gleichen Ergebnissen kommt auch eine  andere unabhängige Studie. Kritiker sagen hier, die Studien hätten Maßnahmen zur Böschungsabschrägung und Tagebauabsicherung nicht ausreichend berücksichtigt.

Finger der Demo zeigt nach Lützerath

Was David Dresen außerdem bewegt, ist, dass „offensichtlich die Profitinteressen eines Konzerns über das Allgemeinwohl gestellt werden.” Das sagen heute viele, die vor Ort aktiv sind. Menschen, die in “Lützi” friedlich für den Erhalt von Lebensgrundlagen einstünden, würden kriminalisiert. Ihnen würde seitens der Polizei mit einer unglaublichen Härte begegnet, so auch Mara Sauer, Sprecherin des Aktionsbündnisses “Alle Dörfer bleiben”.

Weniger friedlich geht es unterdessen wenige Meter weiter auf dem besagten Feld direkt vor der Absperrung zu Lützerath zu. Noch im Verlauf der Reden auf der Bühne rufen vereinzelt Menschen, teilweise vermummt, mit Megaphonen euphorisch dazu auf, mit ihnen gemeinsam nach Lützerath zu gehen. “Wir gehen direkt nach Lützerath rein! Kommt alle mit!” Diese Sätze sind teilweise zu vernehmen. Während der Großteil der Demonstrierenden weiter den Reden auf der Bühne zuhört und Sprechchöre ruft, sondern sich einige hundert Menschen, größtenteils Anhänger radikaler Gruppierungen, von der Kundgebung ab und stellen sich der Polizei gegenüber. 

Lützerath gleicht schon seit Tagen einer Festung. Medienberichten zu Folge wurden sogar akkreditierte und klar als solche erkennbare Journalisten nicht in das Dorf hineingelassen,

Ein Aktivist steht während der Räumung auf einem sogenannten Monopod. Dieser wird nur von den Stahlseilen gehalten. (Foto: Lützi Bleibt Fotopool)

um die Räumung zu dokumentieren. Das wäre ihr gutes Recht, anders ist es bei den Aktivisten, die in Lützerath in Baumhäusern und auf sogenannten Monopods, Baumstämmen, die durch Tragseile gehalten werden, oder sogar in versteckten Tunneln unter der Erde ausharren und so probieren, die Räumung zu verhindern.

 

Seit dem 9. Januar steht der Zaun um Lützerath und seitdem gilt das als Hausfriedensbruch. Die Aktivisten setzen also bewusst einiges aufs Spiel und rechtfertigen das Besetzen als zivilen Ungehorsam. Dieser ist erlaubt und eine demokratische Protestform. Das Aufrufen zum Eindringen nach Lützerath wird allerdings teilweise sogar als Landfriedensbruch gewertet. 

Gewalt von beiden Seiten

In Lützerath drinnen werden Tag für Tag die Aktivisten aus den unterschiedlichen Strukturen geräumt. Viele der Menschen, die nun vor der Polizeikette stehen, wollen nach Lützerath rein. Als auch ich mit anderen vorsichtig in Richtung Lützerath und Absperrung gehe, um, trotzdem aus sicherer Entfernung, zu beobachten, was dort passiert, kommt uns ein junger Mann entgegen. Er trägt eine helle Jacke und ist nicht erkennbar vermummt. Seine Augen sind stark gerötet. Eine junge Frau stützt ihn, ein anderer Mann wäscht ihm mit Wasser aus einer Flasche die Augen aus. Er erzählt uns, er wäre zu einer Pferdestaffel der Polizei gegangen, um sich bei ihr zu beschweren. Er fände, der Einsatz von Pferden in solchen Situationen sei Tierquälerei. Ein Polizist hätte ihm vom Pferd aus Pfefferspray in das Gesicht gesprüht. Wir waren in der Situation nicht dabei, können nur zuhören, was er uns erzählte.

Als wir weitergehen, müssen wir ein vom Regen der Vortage aufgeweichtes und schlammiges Feld überqueren. Jenes Feld, was später für tausendfach aufgerufene Videos im Netz sorgen wird, von Polizeikräften die im Schlamm stecken bleiben, einem als Mönch verkleideten Aktivisten, der einen Polizisten umschubst und aber auch von Aktivisten, die Polizisten helfen, sich aus dem Schlamm zu befreien. Ebenso bleiben aber auch Aktivisten im Schlamm stecken.

In der Nähe der Absperrung angekommen spüren wir die aufgeheizte Stimmung. Zwischen Lützerath und  den Aktivisten sind zwei Bauzäune, dann ein kleiner, vielleicht eineinhalb Meter hoher Erdwall und eine Kette aus Polizeikräften in Hundertschaftsmontur. Es lassen sich ganz unterschiedliche Szenen beobachten. Szenen voller Gewalt und Ausdrücke von Verzweiflung. Einige knien vor dem Erdwall und den Polizisten darauf und reden unter Tränen gegen eine Wand aus Helmen und Protektoren. Andere gehen gewaltfrei, aber mit wütenden Worten in die Konfrontation mit der Polizei. Wieder andere lassen Gewalt zum Ausdruck ihrer Wut werden. Direkt neben uns hebt eine vermummte Person Schlammbrocken vom Boden auf und schleudert sie in Richtung Polizei auf dem Wall. Diese hält ihre Schutzschilder entgegen und zeigt anschließend auf die Person. Ein Polizist signalisiert dann mit deutlichen Handzeichen, dass die Person bei Wiederholung mit Konsequenzen zu rechnen hat.

Die Gewalt, die wir in den folgenden Minuten beobachten können, ist erschreckend. Und sie geht von beiden Seiten aus. Wir sehen Aktivisten, die mit Schlamm schmeißen und Polizisten, die Schlagstöcke auch gegen Personen einsetzen, die sich schon aus der Situation wegbewegen. Wir sehen Pyrotechnik, die in Lützerath selbst auch als Geschoss gegen die Polizei eingesetzt wurde, wie es ein Video des Journalisten Tobias Esser von t-online auf Twitter belegt. Wir sehen, wie Polizeitruppen losstürmen und dabei unbeteiligte Leute umrennen. In einem Video sieht man eine Einsatzgruppe der Polizei Aachen auf eine Menge Aktivisten losstürmen. Was vorher passiert ist, ist nicht zu erkennen. Auch ist zu beobachten, wie aus dem linken Bildrand Schlamm auf die Polizisten fliegt.

Die Wasserwerfer spritzen in die Menge (Foto: Kilian Wolter)

Das Video wurde zuerst auf einem Aktionsticker der Initiative “Lützi lebt” auf Telegram geteilt, danach aber unter anderem auch vom Sprecher der Grünen Jugend, Timon Dzienius, auf Twitter gepostet worden. Eine Sprecherin der auf der Demo eingesetzten Sanitäterinnen und Sanitäter spricht später auf einer Pressekonferenz von vielen Verletzungen auf beiden Seiten. Bei den Aktivisten seien auffällig viele Kopfverletzungen zu behandeln gewesen, auf Seiten der Polizei seien viele Fußverletzungen aufgetreten. Diese kamen häufig vom Umknicken im Schlamm.

Und auf einmal fühlte es sich an, wie im Film, als kurzzeitig und nach über einer halben Stunde mit mehrfachen warnenden Ankündigungen seitens der Polizei die Wasserwerfer eingesetzt wurden. Das Ziel war, Menschen davon abzuhalten, den Erdwall zu überschreiten und somit nach Lützerath einzudringen.

Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul und ein Sprecher der Polizeigewerkschaft sprechen von einem Einsatz wie aus dem Lehrbuch.

Eine friedliche Kundgebung und ein bitteres Ergebnis

Wir kehren um, als die Dämmerung einbricht. Auf der Bühne bei der Kundgebung verwandeln sich die lautstarken Eindrücke von Geschrei und Panik beim Erdwall zu friedlicher Live-Musik und Poetry Slam, der ein letztes Mal heute zum Nachdenken anregt. Vor der Bühne liegen sich Menschen in den Armen. Alle vereint sie der Schlamm an den Schuhen und auf der Regenhose und die Überzeugung, dass Lützerath nicht abgebaggert werden darf. Wir treten unsere Rückreise an. 

Und noch am nächsten Tag, als wir in Hamburg aus dem Zug steigen, begegnen wir Menschen mit vom Matsch verdreckten Wanderschuhen – Und alle, die auch Dreck an den Schuhen haben, lächeln sich gegenseitig an und wissen: Die waren auch in Lützerath.

Es wird noch zwei weitere Tage dauern, bis Lützerath geräumt sein wird. Die Aktivisten setzen ihre Proteste fort. Unterdessen wird bekannt, dass RWE trotz des Kohlekompromisses, der das vollständige Ende des Braunkohle aus dem Rheinland für 2030 datiert hat, auch danach noch weitere 50 Millionen Tonnen Braunkohle abbaggern will.

Welcher Studie man auch Glauben schenken mag, Fakt bleibt, dass unter Lützerath ebenfalls rund 280 Millionen Tonnen Kohle liegen. Würde man diese Kohle verfeuern, so würden auch 280 Millionen Tonnen CO2 emittiert. Das entspricht ungefähr den jährlichen Emissionen von Griechenland und so kann Deutschland das 1,5°C-Ziel nicht mehr einhalten. Am Ende bleiben die Folgen, mit denen wir und alle nachkommenden Generationen leben müssen.

In Lützerath steht ein Polizist. Das Dorf ist zu dem Zeitpunkt weitestgehend geräumt und die letzten Baumhäuser werden abgerissen (Foto: Lützi Bleibt Fotopool)

Eine Krise, die nicht sein müsste

Ein Kommentar zur aktuellen Energiesituation und dem Zusammenhang zwischen globaler Klimagerechtigkeit, Sicherheit und Energiewende

Vor mehr als zehn Jahren haben mich meine Eltern mit zu meiner ersten Demonstration genommen. Es war eine Anti-Atomkraft-Demo. Den gelben Sticker mit der roten, lächelnden Sonne habe ich immer noch.

Heute bin ich achtzehn Jahre alt und engagiere mich in einer bekannten NGO und merke, wovon ich 2011 definitiv noch gar keine Ahnung hatte: Vom Zusammenhang von Energiepolitik, globaler Klimagerechtigkeit und Sicherheit.

Und damit meine ich nicht nur Versorgungssicherheit, sondern auch die Frage nach Frieden und der Gefährdung desselben durch fossile Energien und Atomkraft.
An vielen Orten der Welt heizen die Förderungen klimaschädlicher Energieträger Konflikte an, das sehen wir auch gerade in der Russland-Krise.

Bei der Spaltung von Atomkernen fallen hochgefährliche radioaktive Spaltprodukte an. Doch bis jetzt gibt es weltweit kein Endlager, in dem dieser hochgefährliche Müll sicher gelagert werden könnte. Dabei strahlen die Hinterlassenschaften der Atomkraft mehrere Millionen Jahre. Den mächtigen Menschen mag das momentan egal sein, da ist dann wohl das Geld wichtiger als die Zukunft. Aber ich habe noch ungefähr 70 Jahre, in denen ich auf dieser Erde lebe und in denen ich auch solche Folgen ausbaden muss. Ich sollte in 20 Jahren freudestrahlend sagen können, dass wir die Energiewende hinbekommen haben und nicht, dass wir eine Erde voller Atommüll erschaffen haben.

Zudem haben AKWs auch militärisch eine große Bedeutung. Einerseits können sie zur Zielscheibe werden für Militärs oder Terroristen, wie man es auch gerade in der Ukraine in Tschernobyl und Saporischschja sieht. Beide Atomkraftwerke wurden vom russischen Militär eingenommen. Außerdem kann Material aus zivilen Atomkraftwerken als Ausgangsbasis für Atombomben und den  Antrieb von Atom-U-Booten und Atom-Raketen verwendet werden.

Vor dem Hintergrund, dass Atomkraft mehr Probleme verursacht, als dass sie welche löst, sind solche Forderungen nach der Verlängerung der Laufzeit der AKWs, wie sie jüngst Markus Söder stellte, inakzeptabel. Ich habe Angst um die Zukunft! Gerade jetzt, wo die Atomkraftwerke in der Ukraine umkämpft sind.

Doch nicht nur die Atomkraft sollte uns Sorgen machen.

In was für einer verrückten Welt leben wir eigentlich, dass wir immer noch ohne Ende Kohle, Öl und Gas verbrennen, damit unser Klima anheizen und unsere Lebensgrundlagen zerstören? Die Folgen der Klimakrise zwingen Menschen zur Flucht und sie verstärken Konflikte, zum Beispiel um Wasser und Land.  Und ich bin erschüttert zu hören, dass  die sowieso schon stark umweltschädlichen Bohrplattformen auch noch von Militärschiffen geschützt werden! 2021 wurden  laut einer Greenpeace-Recherche 20 Prozent des deutschen Budgets für militärische Einsätze zur Wahrung der Energiesicherheit aufgewendet. Die Bundesregierung hat allein damit im Jahr 2021 161 Millionen Euro für die Sicherung  dieser hochgradigen Klimakiller verschwendet.

Und nicht nur, dass Kohle, Öl und Gas unsere Zukunft zerstören, sie gehen sehr oft einher mit Menschenrechtsverletzungen und Leid für die lokale Bevölkerung. Ein Beispiel, das mich sehr erschüttert, ist die enorme Zerstörung, die der Öl-Multi Shell mit seinen Bohrungen nach Erdöl in Nigeria angerichtet hat. Gigantische Öl-Lecks haben dort die Natur zerstört und großes Leid für die Menschen verursacht. Shell wird sogar vorgeworfen, 1995 an der Hinrichtung von neun nigerianischen Bürgerrechtler:innen, den Ogoni Nine, durch den damaligen nigerianischen Diktator beteiligt gewesen zu sein. Die Aktivist:innen hatten Massenproteste gegen die von Shell betriebene Ausbeutung ihrer Heimat im Niger-Delta initiiert und dafür wurden sie erhängt. Shell weist zwar die Vorwürfe zurück und gewann kürzlich ein entsprechendes Gerichtsverfahren. Das ändert aber nichts daran, dass für die Gewinnung von Erdöl Menschen ihr Leben lassen mussten und auch nicht daran, dass die Ausbeutung für Öl in Nigeria nachweislich auch heute weitergeht.

Auch in Deutschland ist die Ausbeutung fossiler Rohstoffe nicht konfliktfrei. In Deutschland sollen immer noch Leute für die Kohleförderung zwangsumgesiedelt und -enteignet werden. Menschen müssen ihre Heimat verlassen und ein geschichtsträchtiger, wertvoller Ort droht zu verschwinden. Der Ort, an dem das geschehen soll, ist Lützerath in Nordrhein-Westfalen.

An vielen Orten der Welt heizen die Förderungen klimaschädlicher Energieträger Konflikte an, das sehen wir auch gerade in der Russland-Krise. Durch den Import von Öl, Gas und auch Kohle aus Russland finanzieren wir Putins Krieg in der Ukraine.

Es gibt also mehr als genug Gründe, warum ein Ausstieg aus allen fossilen und nuklearen Energieträgern so schnell wie möglich erfolgen muss. Die Absurdität des Ist-Zustandes zwingt uns eigentlich dazu. Daher gibt es auch nur eine klare Richtung, die in Zukunft funktioniert, nämlich die der Friedensenergien. Wenn wir Klimagerechtigkeit, Sicherheit und nachhaltige Energien zusammenbringen wollen, dann brauchen wir diese.

Friedensenergien sind erneuerbare Energien, die gleichzeitig auch klimagerecht und vollständig nachhaltig sind. Denn eines darf nie vergessen werden, wenn über „die Erneuerbaren“ gesprochen wird:

Erneuerbare Energien müssen naturverträglich ausgebaut werden. Was bringt es, wenn zum Beispiel das Wasserkraftwerk “Gibe III” in Äthiopien durch Zuflüsse und andere menschliche Korrekturen dem Anrainerland Ägypten letztendlich so viel Wasser entzieht, dass Dürren entstehen. So ist die lokale Bevölkerung nicht mehr mit Wasser versorgt, die Natur kollabiert und Erdrutsche könnten die Folge sein.

Dabei ist ein solcher Missstand und dessen Förderung gar nicht nötig.

Gucken wir mal vor die eigene Haustür. An so vielen Stellen könnten Windparks stehen, Solaranlagen auf Dächern wären vergleichsweise  eine Leichtigkeit. Warum gibt es immer noch irrsinnige Abstandsregelungen für Windkraftanlagen? Die Kohlebagger baggern doch auch fast bis an die Grundstücksgrenze alles ab. Solche Hürden müssen beseitigt werden.

Aber es geht bei der Energiewende nicht darum, Verbraucher:innen zu kritisieren, denn das System muss sich ändern. Die Politik muss Chancen und die richtigen Anreize für Wirtschaft und Verbraucher:innen schaffen. Was ich meine, sind Subventionen und Investitionen an der richtigen Stelle: In die Energiewende.

Wir müssen die aktuellen Krisen als Anstoß begreifen, konsequent und zügig den regenerativen Wandel voranzutreiben. Der Wandel braucht ein wenig Radikalität.

Die 200 Milliarden für den Klimaschutz, die Finanzminister Lindner im Frühling 2022 angekündigt hat, sind ein wichtiger Schritt, solange sie richtig genutzt werden. Wenn Worten Taten folgen.

Deshalb ist es jetzt wichtig, keinen Rückzieher zu machen. Das geht auch an die Adresse von Herrn Wissing und Herrn Habeck, die die Energiewende, Wärmewende und Verkehrswende jetzt entschlossen vorantreiben müssen.

Der Wandel braucht ein wenig Radikalität.
Wenn man ihn so lange verschläft, dann braucht man sich auch nicht zu wundern. Es hat nie jemand gesagt, dass es bequem wird. Daher hält sich mein Verständnis für Menschen, die sich, im wahrsten Sinne des Wortes, auf ihrer Kohle ausruhen und auf ihr beharren, sehr deutlich in Grenzen, ist es doch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Zukunft lebenswert zu halten.

 

Kilian Wolter