Zwischen Literatur und Politikum – Die Geschichte des Reclam Verlags

Nahezu jedem Schüler und jeder Schülerin sind sie ein Begriff: die kleinen gelben Reclam-Hefte, die man im Deutschunterricht meist entweder zu hassen oder zu lieben lernt. Was aber die wenigsten wissen, ist, dass der Reclam Verlag auf eine bewegte Historie zurückblickt, in der er sich immer wieder im Zwiespalt zwischen freier Veröffentlichung von Literatur und politischer Einflussnahme befand.

Die Anfänge

Die Geschichte des Reclam Verlages beginnt im Jahr 1828, als sich der damals 21-jährige Anton Philipp Reclam von seinem Vater Charles Henri Reclam 3.000 Taler geliehen hat und damit das sogenannte „Literarische Museum“ in seiner Heimatstadt Leipzig kaufte. Dabei handelte es sich um eine Leihbibliothek mit einem eigenen Lesesaal, die vom bekannten deutschen Autor Thomas Mann anlässlich des 100. Verlagsjubiläums des Reclam Verlages wie folgt beschrieben wurde:

„Das so genannte Museum war eigentlich kein Museum, sondern ein gefährlich lebensvoller Ort: eine Stätte der Lektüre, der Diskussion, der Kritik! Wo alles verkehrte, was im guten Leipzig der falschen und frömmlerischen Ordnung aufsässig war“

(Thomas Mann am 01.10.1928, https://www.deutschlandfunkkultur.de/reclam-leipzig-ade-100.html).

Damit würdigte er zugleich den liberalen, progressiven und politischen Geist Anton Philipp Reclams, der sich auch noch nach der offiziellen Gründung des „Verlag[s] des literarischen Museums“ am 01.10.1828 zeigen sollte. 

Zunächst verkaufte Anton Philipp Reclam das „Literarische Museum“ im Jahr 1837 jedoch wieder und benannte den Verlag in „Philipp Reclam jun.“ um. Bereits zwei Jahre später kaufte er außerdem eine Druckerei in Leipzig, was es ihm ermöglichte, größere Auflagen, darunter z. B. Bibel-Ausgaben und das „Schmidtsche französische Handwörterbuch“ zu drucken.

Der politische Einfluss

In den darauffolgenden Jahren standen der Reclam Verlag und auch Anton Philipp Reclam selbst dem vorherrschenden konservativen Zeitgeist durch eine progressive Gesinnung und ein politisches Verlagsprogramm sehr konträr gegenüber. Der Verlag war beispielsweise mit der politischen Vormärzbewegung von 1830-1848 verbunden, die die Gründung eines deutschen Nationalstaats und die Abschaffung der Fürstenherrschaft forderte und veröffentlichte Zeitschriften wie z. B. die Leipziger Locomotive, der aufgrund von demokratischer Aufrührigkeit bereits sehr schnell die Konzession entzogen wurde. 

In Österreich-Ungarn wurde der Verkauf von Reclam-Büchern 1846 sogar verboten, da diese als antihabsburgerisch angesehen wurden. 

Derweil wurde Anton Philipp Reclam selbst 1848 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, da der Verlag Thomas Paines‘ Werk „Das Zeitalter der Vernunft. Eine Untersuchung der wahren und unwahren Theologie“ veröffentlicht hatte, das die organisierte christliche Religion hinterfragt und angreift.

Nachdem im gleichen Jahr die Märzrevolution scheiterte, verlagerte der Reclam Verlag sein Interesse weg vom politisch Aufrührerischen hin zum erfolgreichen Unternehmertum und konzentrierte sich so vor allem auf klassische Bildungswerke mit hoher Auflagenzahl.

Die Universal-Bibliothek

Mit diesen Bildungswerken einher, ging auch der Vorläufer von Reclams Universal-Bibliothek, die bis heute die größte Buchreihe des Verlags darstellt: eine 1865 erschienene Reihe von 25 Bänden von Dramen des britischen Autors William Shakespeare.

Offiziell entstanden ist die Reihe von literarischen Klassikern zum kleinen Preis allerdings erst, nachdem am 10. November 1867 eine neue Regelung der deutschen Bundesversammlung in Kraft trat, die das (literarische) Urheberrecht betrifft. 

Sie besagte, dass das Urheberrecht deutscher Autoren künftig auf 30 Jahre nach dem Tod befristet sei, wodurch z. B. Werke von Goethe oder Lessing gemeinfrei wurden und so von Verlegern gedruckt werden konnten, ohne dass sie dafür Geld bezahlen mussten. 

Der erste Band der Universal-Bibliothek war eine Ausgabe des Dramas „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe.

Die Neuregelung des Urheberrechts in Kombination mit modernen Produktionsmethoden und wirksamen Marketingstrategien ermöglichte es, dass die Bände der Universal-Bibliothek anfangs zum sehr günstigen Preis von 2 Silbergroschen verkauft werden konnten. 

Aufgrund dieses Preises ermöglichte der Reclam Verlag so auch weniger wohlhabenden Familien den Zugang zu klassischer Literatur und trug so zur Verbreitung von Literatur als Kulturgut bei.

Durch den großen Erfolg der Reihe wurde die Universal-Bibliothek schnell ausgebaut, wobei ab 1867 ca. 140 neue Titel pro Jahr erschienen. Dazu zählten nun auch europäische Literatur, antike und philosophische Werke, Operntexte und vieles mehr.

Nachdem der Verlagsgründer Anton Philipp Reclam 1896 starb, übernahm sein Sohn Hans Heinrich Reclam die Verlagsleitung.

Der Verlag gewann derweil immer mehr an Bedeutung und Größe, sodass im Jahr 1908 der 5.000. Band der Universal-Bibliothek erschien.

Ab 1912 wurden für den Verkauf der Bücher zudem sog. Buchautomaten eingesetzt, die in Bezug auf Funktion und Aufbau heutigen Getränke- oder Snackautomaten gleich kommen. Mehr als 2.000 Stück von ihnen waren bald darauf an öffentlichen Orten wie z. B. Bahnhöfen oder Krankenhäusern zu finden.

Die Zeit des Nationalsozialismus

Als in Deutschland um 1933 die Zeit des Nationalsozialismus anbrach, nahm auch der Reclam Verlag Werke von jüdischen und regimekritischen Autoren wie Thomas Mann oder Heinrich Heine aus dem Programm, weil sie aufgrund der faschistischen Weltanschauung der Nationalsozialisten nicht mehr veröffentlicht werden durften.

Der Zweite Weltkrieg

Während des Zweiten Weltkriegs kam wie auch während des ersten eine tragbare Feldbibliothek heraus, die aus einem robusten Kasten mit 100 unterschiedlichen Reclam-Ausgaben bestand und es Soldaten so ermöglichte, auch in den Frontlagern Reclam-Bücher zu lesen. Darüber hinaus dienten Reclam-Umschläge während des Zweiten Weltkriegs aber auch zur Tarnung von Widerstandsliteratur, da sie aufgrund ihrer hohen Verbreitung nicht weiter auffielen.

Im Jahr 1943 wurde bei einem Bombenanschlag auf Leipzig auch das Verlagsgebäude des Reclam-Verlages getroffen, wodurch ca. 9.000 Zentner Universal-Bibliotheksbände zerstört wurden.

Die Teilung des Verlags

Nachdem 1945 der Zweite Weltkrieg ein Ende fand, wurde Deutschland unter den Siegermächten in verschiedene Besatzungszonen aufgeteilt, wodurch Leipzig unter sowjetische Besatzung geriet. Die politische Einflussnahme und Demontage durch diese Besatzung veranlassten Verlagsinhaber Ernst Reclam 1947 schließlich dazu, in Stuttgart, damals Teil der amerikanischen Besatzungszone, eine neue Verlagsfiliale, die „Reclam Verlag GmbH“ zu gründen. 

Während diese Filiale 1950 zum Stammsitz des Verlages erklärt wurde, kam es zu einer Teilenteignung des Verlagsstandortes Leipzig, wodurch das Unternehmen fortan als „Verlag mit staatlicher Beteiligung“ weitergeführt wurde. In Leipzig wurden weiterhin primär Literaturklassikern herausgegeben, nun aber auch vermehrt Werke von DDR-Autoren.

Derweil fokussierte sich der Reclam-Verlag in Stuttgart, der anfangs nur 8 Bände der Universal-Bibliothek im Programm hatte, zunächst auf die Publikation der Universal-Bibliothek für Schulen und Universitäten. Als diese 1967 ihren 100. Geburtstag feierte, waren schon wieder über 1.100 Bände erhältlichen und im Jahr 1970 erschien die Reihe erstmals im klassisch gelben Design.

Die Wiedervereinigung

Als es 1990 nach dem Mauerfall zur Gründung der gesamten Bundesrepublik Deutschland kam, stand der Reclam Verlag vor der Frage, wie es mit den zwei Verlagsfilialen weitergehen sollte, da der Verlag in Leipzig aufgrund fehlender Lizenzen keine Bände der Universal-Bibliothek veröffentlichen durfte.

Nachdem der Leipziger Verlag 1992 reprivatisiert wurde, entstand aus ihm die Tochtergesellschaft „Reclam Bibliothek Leipzig“. In den folgenden Jahren beschäftigte sich der Verlag in Leipzig hauptsächlich mit der Akquise von neuen Autor[-innen] und der Übersetzung von unter anderem niederländischen und schwedischen Autoren, während der Verlag in Stuttgart die Universal-Bibliothek weiterführte. 

Im Jahr 2005 wurde der Reclam Verlag in Leipzig, bei dem zu diesem Zeitpunkt nur noch vier Mitarbeiter tätig waren, schließlich geschlossen.

Der Reclam Verlag in Stuttgart existiert weiterhin und nimmt pro Jahr ca. 150 neue Bücher ins Verlagsprogramm auf, darunter natürlich auch Werke für die älteste deutschsprachige Taschenbuchreihe, die Universal-Bibliothek.

 

Quellen:

  • https://www.deutschlandfunkkultur.de/reclam-leipzig-ade-100.html
  • https://www.reclam.de/info_pool/wir_ueber_uns
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Reclam-Verlag
  • https://reclam-museum.de/Themen-von-A-bis-Z/Hundert-Jahre-Reclam-1928/
  • https://www.reclam.de/verlag/ueber-reclam
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